Ein Film von Marcus Vetter & Karin Steinberger
Ein Film von Marcus Vetter & Karin Steinberger
Von Marcus Vetter & Karin Steinberger
Man kennt das Bild mittlerweile. Ein Boot voller Menschen am Touristenstrand auf Gran Canaria. Sie schleppen sich durch den Sand, halb verhungert, bleiben einfach liegen und schauen auf die unter Sonnenschirmen lie-genden Touristen. Sie sind Boten eines explosionsartigen Bevölkerungswachstums, das zu 95 Prozent in den Entwicklungsländern stattfindet. Sie zahlen ein Vermögen, um auf überfüllten Fischerbooten in eine Welt überzusetzen, die sie nicht kennen, aber von der sie wunderbare Dinge gehört haben. Unvorstellbaren Reichtum glauben sie dort zu finden, und Glück. Was aber treibt Menschen dazu, ihre Familien und ihre Heimat zurückzulassen und ihr Leben für eine ungewisse Zukunft zu riskieren?
Einer von sieben Menschen weltweit geht hungrig zu Bett, alle fünf Sekunden verhungert ein Kind. insgesamt haben 850 Millionen Menschen zu wenig zu essen. 25.000 Menschen sterben täglich am Hungertod und seinen Folgen, das sind neun Millionen Menschen im Jahr. Eine erschreckende Bilanz. Die in den letzten Monaten enorm gestiegenen Preise für Lebensmittel und Rohstoffe wirken sich auf die Armen und Ärmsten der Welt dramatisch aus: Da die Bewohner zahlreicher Entwicklungsländer nur zum geringen Teil in der Lage sind, selber für ihre Ernährung zu sorgen bzw. im Lande seit langem vorwiegend für den Export produziert wird, sind sie auf Nahrungsmittelimporte angewiesen und können sich diese vielfach nicht mehr leisten. Seit Jahrzehnten kümmern sich große internationale Organisationen wie IWF, WTO, Weltbank, EU, G8 sowie staatliche, kirchliche und regierungsunabhängige Einrichtungen darum, das Problem ‘Hunger’ zu lösen. Doch die Zahl der Hungernden wächst – von Tag zu Tag. Hunger ist die Folge wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Fehlverhaltens von Menschen und Regierungen.
Die Ursachen sind vielfältig: staatliches Missmanagement, Folgen von Globalisierung und Abschaffung von Schutzzöllen, Naturkatastrophen wie Dürren und Überschwemmungen, Kriege. Der Dokumentarfilm ‘Hunger’ erzählt in fünf bis sieben Geschichten, warum es Hunger gibt und wie Menschen, Gruppen und Organisationen darum ringen, eines der schlimmsten sozialen, politischen und ökonomischen Probleme unserer Tage zu lösen. Die Geschichten, die hier erzählt werden, sind sehr nahe an den Menschen, die Hunger leiden oder diesen bekämpfen.
Sie verdeutlichen das Problem Hunger und die Machtstrukturen, die dahinter stehen. Der Dokumentarfilm macht auf den globalen Zusammenhang des Themas aufmerksam. Ihm ist es ein Anliegen, nicht nur Missstände und Katastrophen zu benennen und aufzudecken, sondern auch die positiven Ansätze, das Problem Hunger zu lösen, deutlich werden zu lassen. Der Film soll nicht nur Betroffenheit, sondern auch Hoffnung auslösen. Hunger als Folge von Naturkatastrophen soll ausgeklammert bleiben. Nicht jedoch bewaffnete Konflikte sowie die Folgen des vom Menschen bedingten Klimawandels. Gleichermaßen soll das Thema Hunger in den industrialisierten Ländern nicht betrachtet werden.
Die Dokumentation „Hunger” erzählt, wie Menschen, Gruppen und Organisationen versuchen, die weltweite Ernährungsproblematik in den Griff zu bekommen. Für den Film sind die Journalistin Karin Steinberger (Buch) und der Dokumentarfilmer Marcus Vetter (Buch und Regie) nach Kenia, Indien, Mauretanien, Brasilien und Haiti gereist und haben dort Menschen porträtiert, deren Leben chronisch vom Hunger geprägt ist.
Neben Einzelschicksalen werden die sozialen, politischen und ökonomischen Umstände beleuchtet, die die Tragödie verursachen. Dabei kommen Themen wie die sogenannte Grüne Gentechnik, die EU-Fischerei-Politik, der fehlende Zugang zu Wasser, die Verdrängung des Nahrungsmittelanbaus zugunsten der Futtermittelproduktion und die Auswirkungen von Billigimporten auf die Entwicklungsländer zur Sprache.
Gesendet wurde der 90-minütige Dokumentarfilm im Rahmen der ARD-Themenwoche „Essen ist Leben” am 25. Oktober 2010 im Ersten. „Hunger” ist eine Produktion der Eikon Südwest im Auftrag des SWR, die vom ehemaligen DED und der früheren GTZ unterstützt wurde.
Warum ist die Bekämpfung von Hunger so schwierig?
Fakt ist: Es werden zehn Prozent mehr Lebensmittel produziert als man benötigt, um alle Menschen satt zu bekommen. Marcus Vetter und Karin Steinberger sind in fünf Ländern auf Spurensuche gewesen: Was sind die Gründe für Hunger?
Diese Geschichte fängt dort an, wo sie eigentlich aufhört. Bei denen, die vor dem Hunger fliehen. In Mauretanien, Nouadhibou, im Norden des Landes. Manche sagen, Nouadhibou ist die südlichste Stadt Spa-niens. Manche sagen, Nouadhibou ist das Tor nach Europa. Für viele ist sie nur das Tor in den Tod. Auch Modou Lô Diop kennt die Geschichten von den Toten, die über Bord geworfen werden, er hat gehört von den Stürmen auf der Überfahrt und den Friedhöfen voller toter Flüchtlinge in Marokko. Doch für ihn sind das alles Lügen, die ihn davon abhalten sollen, nach Europa zu gehen. Nicht deswegen ist er noch hier, sondern weil die Überfahrt viel Geld kostet. 900 Euro und mehr, die Menschenhändler sind gierig.
Und so wartet Modou Lô Diop nun schon seit Monaten in Nouadhibou. Die ganze Stadt ist voller junger Männer von überall her, aus dem Senegal, aus Mali, aus Guinea, von der Elfenbeinküste, manche sind seit Jahren unterwegs. Modou Lô Diop hat seine Eltern, seine Frau und seine Kinder im Senegal zurückgelassen, weil es dort nichts gibt. Es ist ja nicht nur der Hunger auf Nahrung, der sie hierher treibt. Es ist auch der Hunger auf eine Chance, auf ein Leben. Und so sitzt er in den dunklen Nächten auf der Straße und verkauft seinen duftenden Kaffee an die Fischer, die in ihren sperrigen Anzügen zum Hafen gehen.
Aber die Geschäfte laufen nicht gut. Nicht für Modou Lô Diop und nicht für die Fischer. Das Meer ist unruhig, der Welthandel auch. Und draußen sind die Fremden unterwegs mit Schiffen, groß wie Fabriken. Dass vor Mauretanien viel Fisch ist, haben auch die Europäer gemerkt, die seit Jahren ihre eigenen Gewässer leer fischen. Für 86 Millionen Euro hat Europa Mauretanien die Fischereirechte abgekauft. Die kleinen Fischer können sich noch erinnern an die Zeiten, als das Meer sie ernähren konnte. Aber jetzt ist alles anders. Jetzt kommen die Fischer oft zurück ohne Fisch. Und sehen die ganze Zeit Schif-fe wie die »Kristina«: Isländische Besatzung, belgische Flagge. Sie fangen an einem Tag so viel wie ein kleiner Fischer in Jahren nicht. Sie fangen an einem Tag so viel wie ein kleiner Fischer in Jahren nicht.
Tausende Tonnen Proteine, riesige Fangmengen für Europa, gefischt von Ausländern – und an Land hungern die Menschen und verstehen das Meer nicht mehr. So ist das in Nouadhibou, Mauretanien. Nur eines verstehen sie: Man kann mittlerweile nicht mehr leben vom Fisch, aber man kann davon leben, wenn man Menschen nach Europa bringt.
86 Millionen Euro zahlt die EU dem westafrikanischen Land, damit mächtige EU-Fangflotten die artenreichen Gewässer vor Mauretanien abfischen dürfen. So effizient wird das Meer ausgeräumt, dass die Fischernetze der Mauretanier oft leer bleiben. Weil sie vom Meer nicht mehr leben können, verkaufen viele ihre Boote an Men-schenhändler. So wurde aus der Fischerstadt Nouadhibou in den letzten Jahren eine Flüchtlingsstadt. Hier geht sie für Tausende los, die Reise ins vermeintliche Paradies – oder in den Tod.
Bild: Kaum noch Beute für die einheimischen Fischer: Mauretaniens Bevölkerung leidet unter der Globalisierung (SWR/ Eikon Südwest)
Diese Geschichte fängt dort an, wo sie eigentlich aufhört. Bei denen, die vor dem Hunger fliehen. In Mauretanien, Nouadhibou, im Norden des Landes. Manche sagen, Nouadhibou ist die südlichste Stadt Spaniens. Manche sagen, Nouadhibou ist das Tor nach Europa. Für viele ist sie nur das Tor in den Tod. Auch Modou Lô Diop kennt die Geschichten von den Toten, die über Bord geworfen werden, er hat gehört von den Stürmen auf der Überfahrt und den Friedhöfen voller toter Flüchtlinge in Marokko. Doch für ihn sind das alles Lügen, die ihn davon abhalten sollen, nach Europa zu gehen. Nicht deswegen ist er noch hier, sondern weil die Überfahrt viel Geld kostet. 900 Euro und mehr, die Menschenhändler sind gierig.
Und so wartet Modou Lô Diop nun schon seit Monaten in Nouadhibou. Die ganze Stadt ist voller jun-ger Männer von überall her, aus dem Senegal, aus Mali, aus Guinea, von der Elfenbeinküste, manche sind seit Jahren unterwegs. Modou Lô Diop hat seine Eltern, seine Frau und seine Kinder im Senegal zurückgelassen, weil es dort nichts gibt. Es ist ja nicht nur der Hunger auf Nahrung, der sie hierher treibt. Es ist auch der Hunger auf eine Chance, auf ein Leben. Und so sitzt er in den dunklen Nächten auf der Straße und verkauft seinen duftenden Kaffee an die Fischer, die in ihren sperrigen Anzügen zum Hafen gehen.
Aber die Geschäfte laufen nicht gut. Nicht für Modou Lô Diop und nicht für die Fischer. Das Meer ist unruhig, der Welthandel auch. Und draußen sind die Fremden unterwegs mit Schiffen, groß wie Fabriken. Dass vor Mauretanien viel Fisch ist, haben auch die Europäer gemerkt, die seit Jahren ihre eigenen Gewässer leer fischen. Für 86 Millionen Euro hat Europa Mauretanien die Fischereirechte abgekauft. Die kleinen Fischer können sich noch erinnern an die Zeiten, als das Meer sie ernähren konnte. Aber jetzt ist alles anders. Jetzt kommen die Fischer oft zurück ohne Fisch. Und sehen die ganze Zeit Schiffe wie die »Kristina«: Isländische Besatzung, belgische Flagge. Sie fangen an einem Tag so viel wie ein kleiner Fischer in Jahren nicht. Sie fangen an einem Tag so viel wie ein kleiner Fischer in Jahren nicht.
Tausende Tonnen Proteine, riesige Fangmengen für Europa, gefischt von Ausländern – und an Land hungern die Menschen und verstehen das Meer nicht mehr. So ist das in Nouadhibou, Mauretanien. Nur eines verstehen sie: Man kann mittlerweile nicht mehr leben vom Fisch, aber man kann davon leben, wenn man Menschen nach Europa bringt.
Im Norden von Kenia lebt das Volk der Turkana. Jahrhun-dertelang haben sie in dieser kargen Region als Viehhir-ten gelebt. Seit Jahren wird ihr Land immer öfter von Dürren überzogen, ihre Herden werden dahingerafft. Die Menschen werden mit Lebensmittelhilfe versorgt, Hilfe, die sie zu Bittstellern degradiert. Wenig daran ist nachhaltig, vieles sinnlos. Den Massai im Süden des Landes geht es nicht viel besser. Dort wird das Wasserdes Kilimandscharo in einer Pipeline nach Nairobi geschleust, an den Massai vorbei. Am Ende der Pipeline liegt eine Blumenfarm, in der Rosen für die Erste Welt produziert werden.
Bild: Hungern, damit Europäer zum Muttertag Rosen verschenken können: Szene aus der ARD-Doku “Hunger” mit einem jungen kenianischen Massai (SWR/ Eikon Südwest)
Suman Sahai sitzt in ihrem cremefarbenen Ambassador und lächelt. Vor dem Autofenster rauschen Reisfelder vorbei. Schönes Jharkhand, Wiege des Reises. Es ist kein Zufall, dass die habilitierte Human-genetikerin mit ihrer »Gene Campaign« gerade hier aktiv ist. Auch sie will das Ernährungsproblem der Welt lösen – nur anders. Seit Jahren versucht sie nun schon, die Menschen davon zu überzeugen, dass die Bauern Indiens über die Jahrtausende das beste Saatgut gezüchtet haben. Wo es viele Fluten gab, gab es flutresistente Sorten, in Dürreregionen dürreresistente. All das, was die Genmanipulatoren jetzt erschaffen wollen, gebe es schon. Man müsse nur das alte Wissen bewahren. Warum also alte Reissorten durch Hochertragssorten internationaler Konzerne ersetzen? Das führe doch nur zu gefährlichen Abhängigkeiten.
Im Dorf Bhandra steigt sie aus. An den Wänden der Hütten stehen die Slogans der »Gene Campaign«: »Der einzige Besitzer von Saatgut ist der Bauer.« Suman Sahai geht hinein in einen dunklen Raum, keine Elektrizität, nur Regale voller Gläser, gefüllt mit Reis. Bishnu Bhagat ist zuständig für diese Glä-ser. Er sagt, jeder im Dorf, der Saat brauche, könne sie sich hier holen, er müsse nur nach der Ernte etwas zurückgeben. Das ist das Prinzip. Keine Bezahlung, keine Schulden. So ist das in Jharkhand. Es sind kleine Bauern – aber letztlich, sagt Suman Sahai, sind sie es, die das große Indien ernähren.
Kishor Tiwari sieht das so ähnlich. Er ist Aktivist, kein Wissenschaftler, er ist jemand, der handelt. Wenn eine Witwe in seinem Büro sitzt, verweint, weil sich ihr Mann mit Pestizid umgebracht hat, drückt er ihr Geld in die Hand. Das ist seine Art, die Welt zu retten. Tiwari lebt in Vidarbha, im Baum-wollgürtel Indiens, dort, wo sich viele Bauern das Leben nehmen.
So viele, dass die Leute sagen, das Einzige, was hier noch boome, sei die Beerdigungsindustrie. Vom »GM Genozid« schrieben die Zei-tungen und von der Killersaat, von Menschen, die eingesperrt seien im Käfig der Weltwirtschaft, von internationalen Konzernen missbraucht, von Geldleihern ausgesaugt und von der Politik vergessen. Tiwari hat die Welt aufmerksam gemacht auf das, was hier passiert. Es geht trotzdem weiter.
Das »weiße Gold« nannten sie hier früher die Baumwolle. Doch jetzt bringt die Baumwolle immer öf-ter den Tod. Denn es gebe nur noch das teure, amerikanische Gensaatgut und die dazugehörigen teu-ren Pestizide und Düngemittel. Sie seien Sklaven von Monsanto, sagen die Bauern. Und dann kaufen sie doch Gensaatgut, weil es eine Wundersaat sein soll und weil man damit doppelt so viel verdienen soll. So sagen die, die sie verkaufen.
Alles eine große Lüge, sagt Tiwari. Er sieht die Leichen von denen, die diesen Versprechungen gefolgt sind und die das traditionelle Saatgut eingetauscht haben gegen das Gensaatgut. Aber keiner erklärt den Bauern, wie man mit dem neuen, hochempfindlichen Saatgut umgehen muss. Und so vernich-ten die Würmer auch die Gensaat, und bei Dürre vertrocknet die Wundersaat noch viel schneller. Nur die reichen Bauern mit ihren Bewässerungsanlagen machen damit Geld. Der kleine Bauer aber habe nur höhere Schulden. Tödlich hohe Schulden.
Seit Jahren kämpft Suman Sahai gegen die Macht der Lebensmittelkonzerne. Sie bringt indischen Bauern bei, dass der Samen ihnen gehört, nicht Firmen wie Monsanto. Sie richtet in Dörfern Samenbanken ein, in denen der einheimische Samen erhalten wird. Weiter südlich sind die einheimischen Samen der Baumwolle fast verschwunden. Es gibt nur noch genmanipuliertes Saatgut. Doch keiner erklärt den Menschen den richti-gen Umgang damit. Die Kleinbauern verschulden sich, weil das teure, empfindliche Saatgut auf ihren Feldern vertrocknet, weil sie viel zu viel Dünger benutzen, weil sie jedes Jahr neuen Samen kaufen müssen. Tausende haben sich in den letzten Jahren wegen Überschuldung umgebracht.
Bild: Saatkampf in Indien: Suman Sahai (Mitte), Gründerin der Gene Campaign, setzt sich für die Bewahrung alter, traditioneller Samen ein, um sich gegen die Macht der Großkonzerne zu stemmen. (SWR/ Eikon Südwest)
André Muggiatti sieht auf den ersten Blick nicht aus wie ein Kämpfer. Er kennt die Gefahren der Monokulturen und die Probleme der gigantischen Rinderfarmen im Amazonas. Und er kennt die Bedeutung des Regenwaldes für das Weltklima. Denn dass es nicht gut ausgeht, wenn der Mensch die Natur gnadenlos zerstört, ist für einen wie ihn eine Binsenwahrheit. Gemeinsam mit Sergio da Silva fährt er die BR-163 entlang. Wer von Cuiaba im Süden Richtung Santarem im Norden fährt, wird oben, am Ende, eine andere Sicht der Dinge haben. Es ist, als würde man die Entwicklung rückwärts im Zeitraffer durchlaufen. Erst kommen die Holzfirmen und holen sich die Edelhölzer, die viel Geld einbringen, heraus, der Rest wird niedergewalzt und abgebrannt. Dann kommen die Kleinbauern, die der Hunger treibt. Dann kommen die Rinderzüchter, von denen einige von sich behaupten können, die größten individuellen Zerstörer des Regenwaldes zu sein. Und dann, ganz am Schluss, kommen die Sojafarmer.
Die beiden Männer fahren hinein ins Sojaland um Cuiaba, Kilometer auf Kilometer, Felder ohne Ende. Dazwischen stehen Silos, groß wie Atommeiler. Die gehören den Sojabaronen. Die Pivettas und die Maggis, und wie sie alle heißen, und auch Fabiano Martini gehört dazu. Manchmal kann er sein Glück nicht fassen, dass Gott ihnen Soja geschenkt hat. Das satte Grün macht ihn glücklich. Es ist das pure Geld, sagt er. Angefangen hat Martinis Glück mit der BSE-Krise. Europa brauchte als Ersatz für Tier-mehl pflanzliches Eiweiß, seitdem boomt Soja.
57 Millionen Tonnen der eiweißhaltigen Bohnen hat allein Brasilien im letzten Jahr produziert, auf Feldern, die sich immer weiter Richtung Norden fres-sen. Ihm macht es keine Angst, dass 20 Prozent des Regenwaldes im Amazonas bereits gefällt sind, er hat kein Problem damit, dass 80 Prozent von dem, was sie hier produzieren, Viehfutter wird. Sergio da Silva schon, er ist an dieser Straße aufgewachsen. Er kann sich noch daran erinnern, wie es war, früher, als der Wald noch stand. Doch die Welt hat Appetit auf Fleisch. Und immer mehr können es auch bezahlen. Also braucht es mehr Rinder, und die brauchen mehr Weiden. Der Fleischkonsum in den Entwicklungs- und Schwellenländern soll sich bis 2030 fast verdoppeln, im Westen soll er um ein Fünftel steigen. Statt 260 würden dann 373 Millionen Tonnen Fleisch pro Jahr benötigt, 40 Prozent mehr als jetzt. Für den Urwald bedeutet das nichts Gutes, sagt Muggiatti.
Denn während das Getreide für einen Laib Brot etwa 500 Liter Wasser zum Wachsen braucht, ver-schlingt ein Brathühnchen in seinem kurzen Leben mindestens die zwölffache Menge in Form von Futtermitteln. Und ein Kilogramm Rindfleisch ist das Produkt von acht Kilogramm Getreide, das ent-spricht 20.000 Litern Wasser. In einem Steak steckt Duschwasser für ein Jahr. Die Tiere produzieren obendrein noch gigantische Mengen an Abgas: Aus den Mägen der Rinder und Schafe kommt ein Großteil des weltweit ausgestoßenen Methans, eines Treibhausgases, das 23-mal so aggressiv ist wie Kohlendioxid.
Holzfirmen, Kleinbauern, Rinderzüchter, Sojafarmer: Das ist der Lauf der Zerstörung im Amazonas. Menschen verdienen viel Geld mit der Vernichtung einer der wichtigsten klimatischen Lungen dieser Welt. 20 Prozent des Amazonas sind bereits gefällt. Immer weiter frisst sich die Gier in den Regenwald, Aktivisten und Kleinbauern sind Freiwild. Alles nur, damit die Erste Welt mit Fleisch versorgt werden kann, und mit Soja, das zu großen Teilen zu Viehfutter wird.
Bild: Soja statt Regenwald: In Brasilien werden riesige Flächen amazonischen Regenwalds gerodet, um Anbauflächen für den Soja zu gewinnen. (SWR/ Eikon Südwest)
Suman Sahai sitzt in ihrem cremefarbenen Ambassador und lächelt. Vor dem Autofenster rauschen Reisfelder vorbei. Schönes Jharkhand, Wiege des Reises. Es ist kein Zufall, dass die habilitierte Human-genetikerin mit ihrer »Gene Campaign« gerade hier aktiv ist. Auch sie will das Ernährungsproblem der Welt lösen – nur anders. Seit Jahren versucht sie nun schon, die Menschen davon zu überzeugen, dass die Bauern Indiens über die Jahrtausende das beste Saatgut gezüchtet haben. Wo es viele Fluten gab, gab es flutresistente Sorten, in Dürreregionen dürreresistente. All das, was die Genmanipulatoren jetzt erschaffen wollen, gebe es schon. Man müsse nur das alte Wissen bewahren. Warum also alte Reissorten durch Hochertragssorten internationaler Konzerne ersetzen? Das führe doch nur zu gefährlichen Abhängigkeiten.
Im Dorf Bhandra steigt sie aus. An den Wänden der Hütten stehen die Slogans der »Gene Campaign«: »Der einzige Besitzer von Saatgut ist der Bauer.« Suman Sahai geht hinein in einen dunklen Raum, keine Elektrizität, nur Regale voller Gläser, gefüllt mit Reis. Bishnu Bhagat ist zuständig für diese Glä-ser. Er sagt, jeder im Dorf, der Saat brauche, könne sie sich hier holen, er müsse nur nach der Ernte etwas zurückgeben. Das ist das Prinzip. Keine Bezahlung, keine Schulden. So ist das in Jharkhand. Es sind kleine Bauern – aber letztlich, sagt Suman Sahai, sind sie es, die das große Indien ernähren.
Kishor Tiwari sieht das so ähnlich. Er ist Aktivist, kein Wissenschaftler, er ist jemand, der handelt. Wenn eine Witwe in seinem Büro sitzt, verweint, weil sich ihr Mann mit Pestizid umgebracht hat, drückt er ihr Geld in die Hand. Das ist seine Art, die Welt zu retten. Tiwari lebt in Vidarbha, im Baum-wollgürtel Indiens, dort, wo sich viele Bauern das Leben nehmen.
o viele, dass die Leute sagen, das Einzige, was hier noch boome, sei die Beerdigungsindustrie. Vom »GM Genozid« schrieben die Zei-tungen und von der Killersaat, von Menschen, die eingesperrt seien im Käfig der Weltwirtschaft, von internationalen Konzernen missbraucht, von Geldleihern ausgesaugt und von der Politik vergessen. Tiwari hat die Welt aufmerksam gemacht auf das, was hier passiert. Es geht trotzdem weiter.
Das »weiße Gold« nannten sie hier früher die Baumwolle. Doch jetzt bringt die Baumwolle immer öf-ter den Tod. Denn es gebe nur noch das teure, amerikanische Gensaatgut und die dazugehörigen teu-ren Pestizide und Düngemittel. Sie seien Sklaven von Monsanto, sagen die Bauern. Und dann kaufen sie doch Gensaatgut, weil es eine Wundersaat sein soll und weil man damit doppelt so viel verdienen soll. So sagen die, die sie verkaufen.
Alles eine große Lüge, sagt Tiwari. Er sieht die Leichen von denen, die diesen Versprechungen gefolgt sind und die das traditionelle Saatgut eingetauscht haben gegen das Gensaatgut. Aber keiner erklärt den Bauern, wie man mit dem neuen, hochempfindlichen Saatgut umgehen muss. Und so vernichten die Würmer auch die Gensaat, und bei Dürre vertrocknet die Wundersaat noch viel schneller. Nur die reichen Bauern mit ihren Bewässerungsanlagen machen damit Geld. Der kleine Bauer aber habe nur höhere Schulden. Tödlich hohe Schulden.
Dem ärmsten Land der westlichen Hemisphäre wurden blühende Landschaften versprochen, wenn der Agrarstaat der internationalen Freihandelszone beitritt. Mit der Öffnung des Marktes fielen jedoch die Preise für Rohstoffe so stark, dass Importprodukte billiger wurden als die Erzeugnisse der Einheimischen – so wurde den Bau-ern jegliche Existenzgrundlage entzogen. Dazu kommt eine korrupte Regierung und eine Natur, die kein Erbar-men kennt. Das Erdbeben im vergangenen Jahr hat die zuvor schon dramatische Situation weiter verschärft.
Bild: Hungersnot in Haiti: Aus Butter, Salz und Erde fertigen Bewohner des Slums Cité de Soleil Schlammkekse. (SWR/ Eikon Südwest)
Es war klar, dass es keinen anderen Namen für diese Dokumentation geben kann als – Hunger. Um nichts anderes geht es. Wie sieht er aus? Wo kommt er her? Wie fühlt er sich an? Wie ist er zu bekämpfen? Wieso gibt es ihn?
Das ist doch das Empörendste, dass es ihn immer noch gibt. Obwohl die Menschen in der Ersten Welt so viel zu essen haben, dass sie nicht mehr wissen, wohin mit ihrem Übergewicht. 3400 Kilokalorien am Tag – im Durchschnitt. Das große Fressen. Die Welt produziert so viele Nahrungsmittel wie nie zuvor. Und dann trifft man Kinder, die sich in der Hitze einer afrikanischen Nacht um einen fast leeren Topf balgen, Kinder, die kleinwüchsig sind und manchmal auch ein wenig zurückgeblieben, weil kein Körper den ewigen Mangel verkraftet. Man sieht ihnen den Hun-ger nicht einmal an, sind ja alle unterernährt, sind ja alle klein. Hidden Hunger – verdeckter Hunger, eben keine spendenaufrufkompatiblen Hungerbäuche. Die Wissenschaftler postulieren die dritte Welternährungskrise und hantieren mit ihren Zahlen und Fakten, malen Hunger-Diagramme auf, die aussehen wie Kinderphantasien, weil keiner mehr wirklich durchblickt im Geflecht der Marktanalysen und Weltbevölkerungsvorhersagen, der nationalen Nahrungsbilanzen und persönlichen Verbraucherpräferenzen.
So viele Ursachen, so viele Faktoren, so viele Unwägbarkeiten. 25.000 Menschen sterben jeden Tag an den Folgen ihrer Mangelernährung. Fast neun Millionen Menschen im Jahr, mehr, als im Großraum London leben. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind. Abstruse Zahlen in einer Welt, in der Millionen von Tonnen Getreide als Kraftstoff an Autos verfüttert werden. Eine wahnwitzige Konkurrenz zwischen Essen und Energie.
Trotzdem: 925 Millionen Menschen gehen abends hungrig zu Bett und wachen morgens hungrig auf. Und es wird nicht besser, im Gegenteil. In Asien werden dieses Jahr 100 Millionen Menschen mehr hungern als vor zwei Jahren. Das ist weit entfernt von dem UN-Milleniumsziel, den Hunger bis 2015 zu halbieren. Warum? Wer ist schuld?
Die Erste Welt, die sich mit Zöllen und Handelsbarrieren abschottet, die ihre Bau-ern mit Subventionen aufpäppelt und ihre übriggebliebenen Geflügelteile in Entwicklungsländern zu Dum-pingpreisen auf die Märkte wirft? Liegt es daran, dass sich immer mehr Menschen Fleisch leisten können, wo doch für jede tierische Kalorie sieben pflanzliche verbraucht werden? Ist der Klimawandel schuld, die sich ausbreitenden Wüsten, die immer häufigeren Dürren und Fluten? Oder die Cash-Crop-Monokulturen, die auf Märkte reagieren, nicht auf Bedürfnisse? Sind es die Investoren, die nach den Immobilien nun mit den Nahrungsmitteln spekulieren, oder die Multis, für die Saatgut eine Ware ist? Sind es die korrupten Regierungen oder die veralteten Methoden der Subsistenzbauern?
Eines ist sicher: Jeden Morgen gibt es 224.488 Menschen mehr. Jeden Morgen ein neues Oberhausen. Im Jahr 2050 werden 9,3 Milliarden Men-schen auf der Erde leben. Sie werden Hunger haben, aber nicht mehr Platz, um Nahrung anzubauen. Niemand wird behaupten, er kenne die eine, große, weltumspannende Ursache für den Hunger – oder die eine Lösung. Vielleicht sind es viele kleine Lösungen, die man suchen muss, ganz nahe bei den Menschen. In Mauretanien, Kenia, Indien, Brasilien, Haiti – fünf Länder. Man hätte auch in hundert andere fahren können.
Schwerstarbeit fürs Überleben: Die indische Bäuerin Bhandra mit ihrer kargen Ernte
Bild (SWR/ Eikon Südwest)
Trotz Rohstoffrecihtum bett